Platzverweis

Ich verließ das Hotel so gegen 10.30 Uhr. Genau, Etap, meine Liga jetzt. Montagmorgen also homeward bound, vorm Tunnel aber noch mal abgefahren zum Shopping-Center Süd. „Don’t play your Rock’n’Roll to me“ aus den Parkhauslautsprechern. „Schon gut“, dachte ich und ging rein.
In der Eingangshalle das übliche Gewusel: Hausfrau, Rentner, Bettelmann – mit und ohne Stütze –, Call-Center-Agenten und die anderen Kreativen gackern hinter Capuccinos in ihre Handys. „Bonjour Risikogesellschaft“, will ich ihnen zurufen, als ich irgendwen von irgendwo meinen Namen rufen höre.
An den beiden Schnauzbärten über den Augen habe ich ihn gleich erkannt: Hänge-Tommy, in der Hand ne Falafel. Schon in der Schule spielten wir zusammen; erst Punkrock in der Aula, dann Grunge im Bunker, später dann die Zwei-Fünf-Eins-Ketten bei den Architekten im Steigenberger. Eine Viertelstunde später saßen wir auf Parkdeck 8 und stachen mit Kugelschreibern auf Bierdosen ein. „Wie früher“, johlte er. „Passt scho’“, seufzte ich, riss an der Lasche und bekleckerte mich bis auf die Haut.

Er schwärmte sich so durch die Zeiten, von „Weißt du noch“ bis „War das geil?“ Als ich sagte: „Da hast du wohl ´n anderes Spiel gesehen“, meint er: „Nix da. Entscheidend ist immer noch aufm Platz“, und da sei er nun mal zu Hause, im Gegensatz zu mir: Menschen, Kommunikation, Leidenschaft und Emotionen – genau sein Ding. Heute verlege er Klangflächen für Filmproduktionen.
„Von Werbung bis High Concept – überall im Pitch. Bloß nicht mehr die Kleinscheiße à la Dänemark!“ – „Wieso Dänemark?“, frage ich ihn. „Ja, lach du nur!“, sagt er. Als mir später, beim Zeigen der Familienbilder, der Taxischein aus dem Portemonnaie fällt, sagt er: „Das meine ich!“ Ich drückte, ohne zu zögern, meine Dose auf ihn ab.
Er sprang auf, griff hinter sich und wollte gerade anfangen, mich mit dem Feuerlöscher zu shampoonieren, als er plötzlich vor uns stand: Petermann, der Metzgerjunge. Schon früher durfte der nie mitspielen. Heute in dunkelblauer Cop-Uniform. „Habt’s ja weit gebracht!“, meinte er, ich: „Bis ganz nach oben, wie du siehst.“ Dann schrieb er unsere Namen auf’n Block, faselte was von sofortiger Vollziehung und drückte uns auf die Rückbank seines BMW. „Guter Wagen zum Herumfahren nach einem Platzverweis“, höre ich mich noch lallen.

Im Wagen stimmte Tommy den Großstadtrevier-Song an: „Wenn der Schutzmann ums Eck kommt...“ – „Das ist hübsch“, sagte Petermann. „Ist das von dir?“ Wir lachten. An der Tankstelle klackerte er uns dafür an den Kopfstützen fest, kam aber mit frischen Getränken zurück. Wie wir in den Fabrikweg einbiegen, singen wir alle zusammen: „Bredenbüttel, here we come...“
Und dann stehen wir wieder auf der Geldwiese vor der Badewanne und stechen auf Bierdosen ein wie früher – bis irgendwann die Sonne hinterm Windrad verschwand, die gelbe Sichel sich zeigte und es langsam dunkel wurde. „Hell war der Mond und die Nacht voll Schatten“, sang Petermann. Jetzt lachten wir alle.
Dann machten wir mit seiner Dienstwaffe noch ein Wettschießen auf die Windradflügel. Ich traf als Einziger sechs Mal; sechs Schüsse – sechs Mal ‚ping’, und wir begossen jeden Treffer mit Küstennebel. Und von da an weiß ich dann nicht mehr genau. Die beiden sind irgendwann zusammen pissen und ich blieb allein zurück; vor der Badewanne mit dem Bier, neben Kühen, auf der Weide, unterm Windrad, Bredenbüttel... ach –  ich legte mich einfach hin und wie ich wieder ins Hotel gekommen bin, habe ich keine Ahnung.

Dort wachte ich aber am nächsten Morgen wieder auf, und zwar mit solch einer finnischen Depression, dass mir vor lauter Traurigkeit und Selbstzweifel ganz übel wurde. Ich tastete nach meinen Sachen und hielt auch gleich die Pistole in der Hand, was mir einen solchen Panikschub versetzte, dass ich nicht mehr wusste, ob ich überhaupt wieder lebend  würde auschecken können.
Filmriss, Schusswaffe, Depression – aus diesem Stoff sind ja wohl die Katastrophen, dachte ich und machte erstmal den Fernseher an, um so bald wie möglich wieder an die Realität heranzurücken. Was ich da sah, taugte dazu aber nicht im Geringsten: Sie brachten was vom Krieg, brennenden Autos und den üblichen Serienkiller-Kram. Schließlich auch noch den Sabotage-Akt am Energienetz von Bredenbüttel.
Ich schaltete erstmal mein Handy aus. Dann ging ich runter und versuchte, mit Sonnebrille auf der Nase im Frühstücksraum einen entspannten Eindruck zu hinterlassen. Danach fuhr ich den ganzen Tag lang mit dem Auto. Am Abend wurde ich am Check-In-Automaten vom Hotel abgewiesen und geriet darüber so in Rage, dass ich die Kontrolle verlor. Wenig später standen die Autos um mich herum in Brand. Ich erschrak heftig und fuhr schnell noch ein paar Gewerbegebiete weiter, wo ich eine Scheibe einschmiss und schließlich im Dänischen Bettenlager übernachtete.

Mein Leben wurde nun immer unstrukturierter. Ich hielt mich von den Innenstädten fern, trieb mich nur noch in den Randbezirken herum, wo ich für ein paar Euros vor Autohäusern und Möbellagern Gitarrenkonzerte spielte. Nach einer Weile schlug mir der Tingeltangel aber derart aufs Gemüt, dass ich beschloss, die Autobahn zu nehmen, um wenigstens nach Spanien zu kommen.
Der Zubringer führte mich vorbei an der Kreuzung – Kreisverkehr heute –, wo auf der Mitte, in den Rabatten, der arme Teufel stand – im Wettermantel und mit dicker Hornbrille. Er bot mir einen Haufen Rubbellose an, wenn ich ihm dafür, im Gegenzug... – Ich hörte gar nicht hin, versprach ihm eine Rolle in meinem nächsten Song und war schon wenig später auf dem Beschleunigungsstreifen.
Da merkte ich dann, was für einen Fehler ich begangen hatte: Ich fuhr geradewegs auf die Sperre zu – rotweiße Streifen vor Polizeiautos, angestrahlt wie die Sixtinische Kapelle. Instinktiv griff ich auf dem Beifahrersitz nach der Waffe und ballerte um mich, in der Hoffnung, ich würde gleich wieder im Etap-Hotel aufwachen – aber nix war. Eine Roadmap hatt ich nicht zur Hand, und so blieb mir nichts über als das Gaspedal durchzudrücken und der Dinge zu harren, die nun noch kommen sollten.